1000 gute Gruende
Freitag, 27. Oktober 2006
Twilightzone
Nice will mich besuchen. Am Sonntag hat sie ihren Besuch telefonisch angekündigt. Es wären jetzt ja Ferien und da sie mit ihrer Schwester sowieso in der Nähe Camping-Urlaub macht, wollte sie gerne die Gelegenheit beim Schopfe packen. Mein neues Heim hätte sie ja auch noch nicht gesehen.

Mich hat das sehr gefreut. Die Beziehung zwischen uns ist eine der merkwürdig-komischen Beziehungen, die auch auf (oder gerade wegen) räumlicher und zeitlicher Distanz gut sind.
Unser erstes Zusammentreffen war leicht angespannt. Ich traf sie, die beste Freundin meiner neuen Freundin Ina, zu einem Basketballspiel. Für mich in mehrfacher Hinsicht eine Premiere - und nicht nur wegen des relativ eindeutigen Sieges unserer Mannschaft denkwürdig.
Was ich - noch - nicht wusste: Ich war der Dritte „neue Freund“ innerhalb zweier Wochen. Das führte bei Nice zu einer gewissen Abnutzungserscheinung des Interesses den Männern ihrer Freundin gegenüber, was ich wiederum auf meine Person bezog. Dieses Verhältnis wurde nicht eben besser als ich mein frisch erworbenes Wissen über den Grund, die Jacke locker über der Hüfte zu tragen (so wie Nice sie gerade trug), kundtat. Obwohl ich noch betonte, dass es selbstverständlich immer nur ein subjektiver Eindruck wäre.

Die Stimmung verschob sich dann nach dem Spiel bei einem Kilkenny in der Kneipe leicht zu meinen Gunsten, da Ina Erklärungsnot bezüglich unseres, und der ungeklärten vorigen, Verhältnisse gegenüber Nice bekam. So hatte ich alleine dadurch, dass ich mich mit Nice’s Begleitung - ein Grieche namens Kostas oder Micos glaub’ ich - unterhielt, und so den beiden Frauen Zeit und Raum gab, einiges an Boden gut gemacht.

So richtig begann das Eis zwischen uns aber erst gut zwei Jahre später zu schmelzen. Wir trafen uns zufällig in der Stadt. Nice hatte inzwischen ihr Studium beendet und ist in die Nähe ihrer neuen Schule gezogen und unsere gemeinsame Freundin säte derweil in einem anderen Freundeskreis Zwist.
Nach einem schönen Nachmittag bei (je) zwei Kaffee stellten wir fest, dass wir ohne die gemeinsame Freundin ganz gut miteinander auskamen.
Lange Rede kurzer Sinn: nach diesem Kaffeenachmittag, weiteren Treffen und Telefonaten im Anschluss, sind also nun bestimmt eineinhalb Jahre vergangen als wir uns für den Mittwochabend vergangener Woche verabredeten.

Nachdem wir die allerneusten Neuigkeiten ausgetauscht hatten überkam uns ein leichter Hunger, den wir durch einen kleinen Imbiss beim örtlichem Pizzadienst zu stillen gedachten.
Das darauf folgende Telefonat lief wie folgt ab:
„Pizzeria P. Guten Abend.“
„N’abend! Ich hätte gern’ etwas zum Essen bestellt.“
„Holen Sie ’s ab …?“
„Nö, ich hätt’s gerne gebracht.“
„Das geht heut’ gar nicht. Hier ist soviel los, das schaffen wir nicht.“
„Okay, dann hol’ ich ’s. Wie lange wird’s denn dauern?“
„Moment ich frag’ mal …“
Dem geneigten Leser ist an dieser Stelle sicherlich aufgefallen, dass die Dame am anderen Ende der Leitung noch gar nicht wusste was ich denn zu bestellen gedachte – war für eine vermeintlich exakte Zeitangabe wohl auch nicht wichtig, denn nach kurzer Zeit schallte aus meinem Hörer
„…eine halbe Stunde.“
„Okay, dann hätte ich gerne den gemischten Salat. Ich gehe davon aus, dass die Zutaten , die unter dem Oberbegriff >Salate< genannt sind (Eisbergsalat – Tomaten – Gurken – Zwiebeln – Mais – Möhren – Oliven – Peperoni – Spezialsauce) auch in dem gemischten Salat, zu dem lediglich der Inhalt Eisbergsalat, Gurke, Tomate und Zwiebel genannt ist enthalten ist …?“
Nach einigem Zögern bejahte die Dame meine Frage, wobei ich mir sicher bin, dass der Empfänger meiner Nachricht kurzfristig unbekannt verzogen ist.
Also weiter mit der Bestellung.
„Kann ich bei Ihnen auch eine Essig-Öl Sauce bekommen?“ (das mit der Vinaigrette schenk ich mir)
„Wir haben da unsere Spezialsauce …“ Okay, hab’ ich auch gelesen …
„Ja, die wäre prima – aber bitte extra und nicht auf den Salat …! Kann ich bei Ihnen auch Pizzabrot bekommen?“
„Ja.“
„Okay. Einmal dann bitte. Und ein Rollo Gyros.“
„Noch was?“
„Danke nein, das wär’s. Dann bis später.“
„Danke. Tschüss.“
Eine halbe Stunde später machen Nice und ich uns auf den Weg. Eigentlich hätten wir das auch zu Fuß erledigen können, aber da wir es uns zwischenzeitlich vor dem Kamin gemütlich gemacht hatten, stand mir nicht der Sinn nach einem Fußmarsch (Wenn ich das Tier schon nicht mehr töten muss, dann will ich auch nicht laufen) und da Ihr Bully vor meinem Auto stand sind wir mal eben schnell zusammen mit dem Wohnmobil zur Pizzeria.

Und dann betrete ich das Paralleluniversum …
Die Tür der alten Dorfkneipe, die jetzt die Pizzeria P. beherbergt, steht offen. Ein kurzer Blick in die Runde genügt um festzustellen, dass sich hier seit meiner Jugend (etliche Dekaden vor unserer Zeitrechnung) nicht viel verändert hat. Neu ist der Pizzaofen, der aus der Küche heraus sein Hinterteil obszön neben der alten Zapfanlage präsentiert. Ein gefaltetes Alurohr führt die wohl heißen Dämpfe der zu garenden Speisen aus der Rückwand heraus in die Küche zurück. Verzweifelt versucht ein grüner Lichtschlauch (10 Meter für 6,95 € bei Aldi), sich oberhalb der Theke schlängelnd, Stimmung zu verbreiten. Das diese Farbe nicht unbedingt positive Assoziationen mit den servierten Speisen oder Getränken hervorruft ist dem Urheber wohl entgangen. Vielleicht war der ja auch der Meinung eine rote Lichtquelle angebracht zu haben.
Ansonsten alles beim alten. Als hätte ich mich letzte Woche erst von meinen Kumpels aus den Kindheitstagen verabschiedet, nachdem der einzige Flipperautomat im Dorf - mit dem geheimnisvollen Namen „Black Knight“ – das letzte Markstück dankend verschluckt hat, und ich mich nun mit meinem Helm in der Hand auf dem Weg zu meiner treuen und frisch frisierten Puch Maxi N gemacht hätte.
Ich begebe mich geradewegs und voller Tatendrank an die Theke und äußere selbstbewusst meinen Wunsch meine vor einer halben Stunde bestellten Speisen abzuholen.
Die offensichtlich überforderte Kellnerin schaut mich an als hätte ich ihr gerade einen unsittlichen Antrag gemacht – wobei sich die Frage stellt, ob sie und ich die gleichen Vorstellungen von Sitte besitzen. Also das dauert noch gute zwanzig Minuten wird mir beschieden.
Ich wehre mich verzweifelt mit einem deutlichen Hinweis darauf, dass ich vor fünfunddreißig Minuten doch dreißig ebensolche genannt bekommen habe.
Missbilligend nehmen mich die anderen Thekengäste zur Kenntnis. Ein Fremder in Ihrem Stammlokal. Und offensichtlich ist er mit den hier herrschenden Regeln nicht besonders vertraut.
„Sie sind doch die beiden Pizza, oder?“ reißt mich die Kellnerin in die Realität zurück, noch bevor ich meinen imaginären Kautabak in den imaginäre Spucknapf entsorgen kann. „Nein, ich bin der Salat und das Rollo“ gebe ich resigniert zurück. Während die Kellnerin mich nun mit einem knappen „Ich frag mal“ vertröstet und sich gerade auf den Weg in die Küche machen will, fügt die Thekenkraft, deren ethnische Wurzeln zweifelsohne auf dem indischen Subkontinent ruhen, triumphierend hinzu: „Und Pizzabrot, oder?“
Da mir so spontan nichts passenderes einfällt nicke ich freundlich. „Ist gleich fertig“ ruft mir die extrem gestresste Servicekraft auf dem Weg aus der Küche zu den Tischen zu. Ich frage mich, ob in ihrer Welt gleich identisch ist mit zwanzig Minuten. Aber was soll ich machen. Zurück zum Bully schleichen und Nice mitteilen, dass Salat aus ist (Spezialsauce könnten wir aber bekommen) will ich auch nicht. Also vertraue ich darauf, dass der Zeitraum, der üblicherweise mit „gleich“ benannt wird entlang eines Längengrades annähernd identische Zeitspannen beschreibt.
Während ich jetzt also auf mein Essen warte fällt mir ein komische Geräusch im Hintergrund auf. Es ähnelt dem Zwitschern eines Kanarienvogels nach einem Asthmaanfall oder als würde man mit einer CD das scratchen üben.
Nach kurzem Suchen habe ich den Urheber dieses merkwürdigen Geräusches entdeckt: An der Stirnwand hängt ein neuartiger Flachbildschirm in der Größe einer Kinderbettmatratze, sich redlich mühend ein stabiles Bild zu zeigen. Ah ja. Heut’ spielt Werder gegen Sofia. Hatte ich in der Aufregung um Nice’s Besuch ganz vergessen - die anwesenden Gäste hier nicht. Alle starren gebannt auf den Bildschirm, der nunmehr stoisch die Mitteilung kein Signal von sich gibt.
Während mein Blick der gestressten Kellnerin folgt, in freudiger Erwartung sobald sie die Küche betritt, enttäuscht wenn sie ohne die obligatorischen weissen Kunststofftragetaschen wieder herauskommt. Zwischendurch meldet sich der elektronische Kanarienvogel immer mal wieder. Begleitet von grellfarbenen Bildblöcken die unkoordiniert über den Bildschirm huschen. Das ganze erinnert ein wenig an die Schiebepuzzle von früher, die unsere Mutter uns Kindern immer aus der Hand gerissen hat, um sie selbst zu lösen.
Das ist die Crux des digitalen Bildempfanges. Während bei der analogen Übertragungstechnik ein gestörtes Signal das Fernsehbild rauschen lässt (wie wir seit Poltergeist eins bis drei alle wissen), quält uns die neue Digitaltechnik mit zuckenden Bildquadern und quietschenden Kanarienvögeln.
„Da hat wieder einer sein Handy an“ murmelt der Mann zu meiner rechten. Unwillkürlich wandert meine Hand in die Jackentasche - Gott sei Dank: meins liegt zu Hause. „Ich hab’ hier eh’ keinen Empfang“ entgegnet ihm sein Gegenüber. Beide erinnern mich in ihrer Art ein wenig an Dittsches Schildkröte. Wenn ich’s nicht gehört hätte, hätte ich weder an den fehlenden Gesten, noch an der - ebenfalls fehlenden - Lippenbewegung gemerkt, dass hier eben ein Gedankenaustausch stattgefunden hat.
Inzwischen wandert mein Blick zurück zu der Thresenfachkraft, die eifrig bemüht ist, etliche verschiedenartiger Schnapsgläser mit einer klebrig-roten Flüssigkeit aus einer zwei Liter Weinflasche zu füllen. Überfüllte Gläser werden kurzerhand über der Spüle um einige Milliliter erleichtert.
Offensichtlich ist dieses rote Getränke nicht nur für mich ein Geheimnis, denn meine beiden Nachbarn unterhalten sich auch gerade darüber, wobei der eine den anderen großzügig an seinem Wissen teilhaben lässt - mich damit auch. „Das ist so’n süßer Rotwein, den gibt’s hier vom Haus immer dazu ...“
Mich ekelt die Vorstellung gleich ebenfalls einen der reichlich vorbereiteten Schnapsgläser angeboten zu bekommen und deshalb suche ich bereits fieberhaft nach einer Ausrede als ein rascheln und knistern aus der Küche Essen zum Mitnehmen ankündigt. Und tatsächlich erscheint kurz darauf die hektische Servicekraft mit zwei Plastikbeuteln in der Hand und reicht diese meinem Nachbarn zur linken herüber. Resignierend lasse ich meine Hand, die eben noch über meiner Gesäßtasche mit dem Portemonnaie darin schwebte, wieder sinken. Der Glückliche zahlt passend mit einem zehn Euroschein und verlässt mit seinem nicht mehr ganz neuen Jogginganzug den Ort des Grauens.
Mittlerweile hat die Thekenfrau die allermeisten Weinschnäpse unter die Leute gebracht. Das Tablett sieht aus wie nach einem schwäbischen Schlachtfest. „So, ich geh dann jetzt mal ...“ wird rechts neben mir die Unterhaltung letztmalig - für diesen Abend - wieder aufgenommen. „Ich kann noch nicht“ erwidert das Pendant „Ich hab’ mir noch was zu essen bestellt und das dauert wohl noch ’ne halbe Stunde ...“ ich spüre wie mir die Farbe aus dem Gesicht rinnt. Also werde ich wohl tatsächlich noch etwas an diesem unwir(t/k)lichem Ort verweilen müssen. „Bis morgen dann“ dringt’s in mein rechtes Ohr. Die Antwort ist gleichlautend. Verzweiflung macht sich breit ... die treffen sich jeden Tag hier???
Während einer meiner Thekennachbarn zur Tür strummpelt , vernehme ich, eher unbewusst, erneut das Rascheln von dünnen Plastiktüten. Noch bevor ich mein Glück realisiere vernehme ich ein kurzes und knappes „Zehn Euro“ von der nun plötzlich vor mir stehenden Kellnerin gefolgt von einem pffftt mit dem sie hier Haar aus dem Gesicht zu blasen versucht. Wieder zehn Euro? Haben die hier Einheitspreise? Egal. Ich reiche den Schein herüber und scanne dabei die vor mir liegenden Taschen nach dem möglichen Inhalt. Sieht erfolgversprechend aus. Ich greif mir also die Tüten und begebe mich zur Tür. Plötzlich bellt mich ein Reporter aus dem Fernseher an. Der Ton ist wieder da und die Quadrate bewegen sich auch nicht mehr ganz so hektisch. Während sich draußen meine Lungen mit frischer Luft füllen hängen meine Gedanken noch den armen Seelen nach die ich gerade hinter mir gelassen habe …
Fast wie nach einem Bankraub schwinge ich mich auf den Beifahrersitz des bereitstehenden Bullys und gebe die knappe Anweisung „Losfahren!“ Nice schaut verwirrt von ihrer Lektüre auf, die sie abwesend beiseite legt um den Motor zu starten. Welch köstliches Geräusch.

Das Essen selbst war nicht das schlechteste. Das Pizzabrot erwies sich als Fladenbrot für fünf bis sieben Menschen. Das Giros-Rollo bestand zum größten Teil aus Zwiebeln und die Spezialsauce zum Salat glich eher einem Dipp.

Aber wir sind nicht verhungert und der Abend war trotz allem sehr schön.

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